Übung 04

Bestandsmanagement unter Unsicherheit

Aufgabe 1: Bestandsgrößen im Zeitverlauf

Ein Händler für hochwertige Espressomaschinen nutzt zur Steuerung seines Lagers eine \((s, q)\)-Politik mit kontinuierlicher Überwachung. Die Politik ist wie folgt definiert:

  • Bestellpunkt (Meldebestand) \(s\): 80 Maschinen
  • Bestellmenge \(q\): 200 Maschinen
  • Wiederbeschaffungszeit \(L\): 2 Wochen (deterministisch)

Der Händler startet in Woche 0 mit den folgenden Beständen:

  • Physischer Bestand \(I_0^P\): 100 Maschinen
  • Bestellbestand (offene Bestellungen) \(I_0^O\): 0 Maschinen

Wöchentliche Nachfragen (deterministisch für diese Aufgabe):

Woche (t) 1 2 3 4 5 6
Nachfrage \(d_t\) 40 35 50 40 55 60

Ihre Aufgaben:

  1. Tabelle ausfüllen: Füllen Sie die folgende Tabelle aus. Verfolgen Sie alle Bestandsgrößen über den Zeitraum von 6 Wochen. Eine Bestellung wird am Ende der Woche ausgelöst, in der der disponible Bestand den Meldebestand \(s\) erreicht oder unterschreitet. Der Wareneingang erfolgt dann genau \(L=2\) Wochen später zu Beginn der Woche.
Woche (t) Nachfrage \(d_t\) Disp. Bestand (Anfang) Bestellung? (Menge) Disp. Bestand (Ende) Phys. Bestand (Ende) Bestellbestand (Ende) Fehlbestand (Ende)
0 - - - 100 100 0 0
1 40 100 ? ? ? ? ?
2 35 ? ? ? ? ? ?
3 50 ? ? ? ? ? ?
4 40 ? ? ? ? ? ?
5 55 ? ? ? ? ? ?
6 60 ? ? ? ? ? ?

Lösung:

Reihenfolge der Ereignisse

Beachten Sie die korrekte Reihenfolge der Aktionen innerhalb jeder Woche:

  1. Wareneingang: Zu Beginn der Woche kommt eine eventuell vor \(L=2\) Wochen getätigte Bestellung an. Dadurch steigt der physische Bestand und der Bestellbestand sinkt.
  2. Nachfrage-Erfüllung: Die Nachfrage der aktuellen Woche wird bedient. Dies senkt den physischen und den disponiblen Bestand.
  3. Bestellentscheidung: Am Ende der Woche wird geprüft, ob eine neue Bestellung ausgelöst werden muss.

Die wichtigsten Formeln

  • Disponibler Bestand (\(I^D\)): Die entscheidende Größe für die Bestellung. Er repräsentiert die Summe aus physischem und bestelltem Bestand. \(I^D_t(\text{vor Bestellung}) = I^D_{t-1}(\text{Ende}) - d_t\)
  • Bestellentscheidung: Prüfe am Ende der Woche: \(I^D_t(\text{vor Bestellung}) \le s\)?
    • Wenn Ja: Löse eine Bestellung über die Menge \(q\) aus. Der disponible Bestand erhöht sich sofort: \(I^D_t(\text{Ende}) = I^D_t(\text{vor Bestellung}) + q\)
    • Wenn Nein: Der disponible Bestand bleibt für das Ende der Woche unverändert.
  • Physischer Bestand (\(I^P\)):
    • \(I^P_t(\text{Ende}) = I^P_{t-1}(\text{Ende}) + \text{Wareneingang}_t - d_t\) (kann nicht negativ werden)
  • Bestellbestand (\(I^O\)):
    • \(I^O_t(\text{Ende}) = I^O_{t-1}(\text{Ende}) - \text{Wareneingang}_t + \text{Neue Bestellung}_t\)

Die Logik ist wie folgt:

  1. Disponibler Bestand (Anfang): Ist der disponible Bestand vom Ende der Vorwoche.
  2. Bestellung?: Prüfe am Ende der Woche: Disponibler Bestand (Anfang) - Nachfrage <= s? Wenn ja, löse Bestellung über q aus.
  3. Disponibler Bestand (Ende): Disponibler Bestand (Anfang) - Nachfrage.
  4. Physischer Bestand / Fehlbestand: Physischer Bestand (Anfang) + Wareneingang - Nachfrage.
  5. Bestellbestand: Bestellbestand (Anfang) + Neue Bestellung - Wareneingang.
Berechnung Schritt für Schritt:
Woche 1: Meldebestand unterschritten (60 <= 80). Bestellung ausgelöst.
Woche 3: Wareneingang von 200 Stück.
Woche 5: Meldebestand unterschritten (80 <= 80). Bestellung ausgelöst.

Vervollständigte Tabelle:
 Woche (t)  Nachfrage $d_t$  Disp. Bestand (A)  Bestellung? (E)  Disp. Bestand (E)  Phys. Bestand (E)  Bestellbestand (E)  Fehlbestand (E)
         1               40                100              200                260                 60                 200                0
         2               35                260                0                225                 25                 200                0
         3               50                225                0                175                175                   0                0
         4               40                175                0                135                135                   0                0
         5               55                135              200                280                 80                 200                0
         6               60                280                0                220                 20                 200                0

Aufgabe 2: Sicherheitsbestand und Servicegrade

Ein Online-Händler für ein populäres Smartphone-Modell möchte seinen Lagerbestand optimieren. Die wöchentliche Nachfrage ist annähernd normalverteilt mit einem Mittelwert von 60 Stück und einer Standardabweichung von 20 Stück. Die Wiederbeschaffungszeit vom Hersteller beträgt konstant 3 Wochen. Der Händler nutzt eine Politik der kontinuierlichen Überprüfung.

Ihre Aufgaben:

  1. Mittelwert und Standardabweichung: Berechnen Sie den Mittelwert und die Standardabweichung der Nachfrage während der Wiederbeschaffungszeit (dem Risikozeitraum).
  2. Bestellpunkt und Sicherheitsbestand: Der Händler strebt einen \(\alpha\)-Servicegrad (Zyklus-Servicegrad) von 95% an. Das bedeutet, die Wahrscheinlichkeit eines Fehlbestands während eines Bestellzyklus soll nur 5% betragen. Welcher Bestellpunkt (reorder point) \(s\) muss gewählt werden? Wie hoch ist der resultierende Sicherheitsbestand?
  3. Erwartete Fehlmenge: Gegeben der Bestellpunkt \(s\) aus Teil 2: Berechnen Sie die erwartete Fehlmenge pro Bestellzyklus \(E(B)\). Nutzen Sie dafür die in der Vorlesung vorgestellte standardisierte Einheiten-Verlustfunktion \(G_u(z)\). Die benötigten Werte für \(G_u(z)\) finden Sie in den Tabellen der Vorlesung oder in den Lösungn zu dieser Aufgabe.
  4. Servicegrad: Wenn der Händler eine feste Bestellmenge von \(q=450\) Stück verwendet, welchen \(\beta\)-Servicegrad (Mengen-Servicegrad) erreicht er mit seiner Politik?

Lösung:

1. Nachfrage während der Wiederbeschaffungszeit (WBZ)

Der Risikozeitraum ist die Wiederbeschaffungszeit \(L\). Wir müssen die Kennzahlen der Nachfrageverteilung für diesen längeren Zeitraum berechnen. Für unabhängige Perioden gilt:

  • Erwartungswert der Nachfrage während WBZ: \(\mu_L = L \cdot \mu_{\text{wöchentlich}}\)
  • Varianz der Nachfrage während WBZ: \(\sigma_L^2 = L \cdot \sigma_{\text{wöchentlich}}^2\)
  • Standardabweichung der Nachfrage während WBZ: \(\sigma_L = \sqrt{L} \cdot \sigma_{\text{wöchentlich}}\)

2. Bestellpunkt und Sicherheitsbestand

Der Bestellpunkt \(s\) deckt die erwartete Nachfrage während der WBZ ab und enthält zusätzlich einen Puffer für Unsicherheit.

  • Bestellpunkt (\(s\)): \(s = \mu_L + SS\)
  • Sicherheitsbestand (\(SS\)): \(SS = z \cdot \sigma_L\)
  • Sicherheitsfaktor (\(z\)): Dieser Wert hängt vom gewünschten \(\alpha\)-Servicegrad (Zyklus-Servicegrad) ab und wird aus der Standardnormalverteilung abgelesen.

3. Erwartete Fehlmenge (\(E(B)\))

Dies ist die durchschnittliche Anzahl an Einheiten, die pro Zyklus aufgrund von zu hoher Nachfrage nicht geliefert werden können.

  • Formel: \(E(B) = \sigma_L \cdot G_u(z)\)
  • Standardisierte Verlustfunktion (\(G_u(z)\)): \(G_u(z) = \phi(z) - z(1 - \Phi(z))\)
    • \(\phi(z)\): Dichtefunktion der Standardnormalverteilung.
    • \(\Phi(z)\): Kumulative Verteilungsfunktion der Standardnormalverteilung.

4. \(\beta\)-Servicegrad (Fill Rate)

Dieser Servicegrad misst den prozentualen Anteil der Gesamtnachfrage, der direkt aus dem Lager bedient wird.

  • Formel: \(\beta = 1 - \frac{E(B)}{q}\)
1. Nachfrage während der WBZ:
   - Erwartungswert (mu_L): 180.00 Stück
   - Standardabweichung (sigma_L): 34.64 Stück

2. Bestellpunkt für alpha = 95.0%:
   - Benötigter z-Wert (Sicherheitsfaktor): 1.645
   - Sicherheitsbestand: 1.645 * 34.64 = 56.98 Stück
   - Bestellpunkt s: 180.00 + 56.98 = 236.98 Stück (gerundet: 237.0)
   -> Der Meldebestand sollte auf 237.0 Stück gesetzt werden.

3. Erwartete Fehlmenge pro Zyklus E(B):
   - phi(z=1.645) = 0.1031
   - E(B) = 34.64 * (0.1031 - 1.645 * 0.05) = 0.7238 Stück

4. Resultierender beta-Servicegrad:
   - beta = 1 - (0.7238 / 450) = 0.9984 oder 99.84%

Aufgabe 3: Diskrete Nachfrage und Faltung

Ein Comic-Laden verkauft eine beliebte wöchentliche Manga-Ausgabe. Die tägliche Nachfrage ist nicht normalverteilt, sondern folgt dieser diskreten Verteilung:

Nachfrage (D) pro Tag 0 Hefte 1 Heft 2 Hefte 3 Hefte
Wahrscheinlichkeit P(D) 0.3 0.4 0.2 0.1

Die Wiederbeschaffungszeit beträgt genau 2 Tage.

Ihre Aufgaben:

  1. Wahrscheinlichkeitsverteilung: Leiten Sie die Wahrscheinlichkeitsverteilung für die Gesamtnachfrage \(Y_2\) über den Risikozeitraum von 2 Tagen her. (Tipp: Nutzen Sie die Faltung der Verteilung mit sich selbst).
  2. Fehlbestandswahrscheinlichkeit: Wenn der Ladenbesitzer einen Bestellpunkt von \(s=4\) Heften festlegt, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Fehlbestand kommt (d.h. der \(\alpha\)-Servicegrad nicht eingehalten wird)?
  3. Erwartete Fehlmenge: Berechnen Sie die erwartete Fehlmenge \(E(B)\) für den Bestellpunkt \(s=4\).

Lösung:

1. Faltung von Wahrscheinlichkeitsverteilungen

Wenn Sie die Verteilung der Summe von zwei unabhängigen, diskreten Zufallsvariablen \(D_1\) und \(D_2\) (hier die Nachfrage an zwei aufeinanderfolgenden Tagen) finden wollen, müssen Sie deren Verteilungen “falten”. Für die Gesamtnachfrage \(Y_2 = D_1 + D_2\) berechnen Sie die Wahrscheinlichkeit \(P(Y_2=k)\) wie folgt: \(P(Y_2=k) = \sum_{j} P(D_1=j) \cdot P(D_2=k-j)\)

Beispiel: Um die Wahrscheinlichkeit für eine Gesamtnachfrage von 2 zu finden (\(k=2\)), summieren Sie die Wahrscheinlichkeiten aller möglichen Kombinationen auf, die 2 ergeben: \(P(Y_2=2) = P(D_1=0, D_2=2) + P(D_1=1, D_2=1) + P(D_1=2, D_2=0)\) Da die Tage unabhängig sind, ist \(P(D_1=a, D_2=b) = P(D=a) \cdot P(D=b)\).

2. Fehlbestandswahrscheinlichkeit (\(1-\alpha\))

Ein Fehlbestand tritt ein, wenn die Nachfrage während der Wiederbeschaffungszeit (\(Y_2\)) den Bestellpunkt (\(s\)) übersteigt. \(P(\text{Fehlbestand}) = P(Y_2 > s)\)

3. Erwartete Fehlmenge (\(E(B)\))

Die erwartete Fehlmenge ist die Summe aller möglichen Fehlmengen, gewichtet mit ihren jeweiligen Eintrittswahrscheinlichkeiten. \(E(B) = \sum_{y} \max(0, y - s) \cdot P(Y_2=y)\) Sie müssen also für jeden möglichen Nachfragewert \(y\) die Fehlmenge \((y-s)\) berechnen (falls diese positiv ist) und mit der Wahrscheinlichkeit \(P(Y_2=y)\) multiplizieren.

1. Wahrscheinlichkeitsverteilung der Gesamtnachfrage über 2 Tage (Y2):

Wir müssen alle möglichen Kombinationen der Nachfrage an Tag 1 (\(D_1\)) und Tag 2 (\(D_2\)) betrachten. Die Gesamtnachfrage ist \(Y_2 = D_1 + D_2\). Die möglichen Werte für \(Y_2\) reichen von 0 (0+0) bis 6 (3+3).

  • P(Y2 = 0): \(P(D_1=0, D_2=0) = 0.3 \cdot 0.3 = 0.09\)
  • P(Y2 = 1): \(P(D_1=0, D_2=1) + P(D_1=1, D_2=0) = (0.3 \cdot 0.4) + (0.4 \cdot 0.3) = 0.12 + 0.12 = 0.24\)
  • P(Y2 = 2): \(P(D_1=0, D_2=2) + P(D_1=1, D_2=1) + P(D_1=2, D_2=0) = (0.3 \cdot 0.2) + (0.4 \cdot 0.4) + (0.2 \cdot 0.3) = 0.06 + 0.16 + 0.06 = 0.28\)
  • P(Y2 = 3): \(P(D_1=0, D_2=3) + P(D_1=1, D_2=2) + P(D_1=2, D_2=1) + P(D_1=3, D_2=0) = (0.3 \cdot 0.1) + (0.4 \cdot 0.2) + (0.2 \cdot 0.4) + (0.1 \cdot 0.3) = 0.03 + 0.08 + 0.08 + 0.03 = 0.22\)
  • P(Y2 = 4): \(P(D_1=1, D_2=3) + P(D_1=2, D_2=2) + P(D_1=3, D_2=1) = (0.4 \cdot 0.1) + (0.2 \cdot 0.2) + (0.1 \cdot 0.4) = 0.04 + 0.04 + 0.04 = 0.12\)
  • P(Y2 = 5): \(P(D_1=2, D_2=3) + P(D_1=3, D_2=2) = (0.2 \cdot 0.1) + (0.1 \cdot 0.2) = 0.02 + 0.02 = 0.04\)
  • P(Y2 = 6): \(P(D_1=3, D_2=3) = 0.1 \cdot 0.1 = 0.01\)

Zusammenfassung der Verteilung für Y2:

\(Y_2\) 0 1 2 3 4 5 6
P(\(Y_2\)) 0.09 0.24 0.28 0.22 0.12 0.04 0.01

2. Wahrscheinlichkeit eines Fehlbestands für s=4:

Ein Fehlbestand tritt auf, wenn die Nachfrage \(Y_2\) den Bestellpunkt \(s=4\) übersteigt. \(P(\text{Fehlbestand}) = P(Y_2 > 4) = P(Y_2 = 5) + P(Y_2 = 6)\) \(P(\text{Fehlbestand}) = 0.04 + 0.01 = 0.05\) oder 5%.

Der \(\alpha\)-Servicegrad wäre demnach \(1 - 0.05 = 0.95\) oder 95%.

3. Erwartete Fehlmenge E(B) für s=4:

Die Fehlmenge \(B\) ist \(\max(0, Y_2 - s)\). Wir berechnen den Erwartungswert, indem wir jede mögliche Fehlmenge mit ihrer Wahrscheinlichkeit multiplizieren.

  • Wenn \(Y_2 \le 4\), ist die Fehlmenge 0.
  • Wenn \(Y_2 = 5\), ist die Fehlmenge \(5 - 4 = 1\). Die Wahrscheinlichkeit dafür ist \(P(Y_2=5) = 0.04\).
  • Wenn \(Y_2 = 6\), ist die Fehlmenge \(6 - 4 = 2\). Die Wahrscheinlichkeit dafür ist \(P(Y_2=6) = 0.01\).

\(E(B) = \sum \max(0, y - s) \cdot P(Y_2=y)\) \(E(B) = (1 \cdot P(Y_2=5)) + (2 \cdot P(Y_2=6))\) \(E(B) = (1 \cdot 0.04) + (2 \cdot 0.01) = 0.04 + 0.02 = 0.06\)

Die erwartete Fehlmenge pro Bestellzyklus beträgt 0.06 Hefte.